Ich habe von 2006 bis 2010 europäischen Grenzorte bereist. Ich war in Melilla, einer spanischen Exklave auf afrikanischem Boden, ich war in Finnland an der Grenze zu Russland. Ich war auf Lampedusa im Mittelmeer und am Donaudelta am schwarzen Meer. Ich wollte wissen, wie es am Rand Europas aussieht, ich wollte wissen, wie es sich dort anfühlt.

Grenzorte sind Orte des Übergangs, des „Sowohl als auch“, des dazwischen, an denen einerseits die Abgrenzung zweier oft sehr gegensätzlicher Kulturen und Weltanschauungen sichtbar wird, an denen aber auch durch die Vermischung dieser Gegensätze etwas ganz eigenes und neues entstanden ist.
Manche dieser Orte fristen in der Peripherie zweier Staaten, zweier Kulturen eine Art Schattendasein, das ihnen auch ungeahnte und unerwartete Freiräume jenseits beider Anrainer bietet. So entstanden und entstehen an solchen Orten immer ganz typische Stimmungen, die es so nirgendwo anders gibt und geben kann.

“ Es gibt Fotos in seiner Arbeit über Grenzen, die auf den ersten Blick sehr idyllisch wirken. Aber der Schein trügt. Betrachten wir die Darstellung von Vukovar an der Donau, auf der gegenüberliegenden Seite liegt Serbien.Während des Krieges haben die Serben von der anderen Seite Vukovar beschossen, Vukovar wurde sehr stark zerstört. Ein Ziel der serbischen Artillerie war der Wasserturm Vukovars, ein anderes Ziel war das Schloss (ganz links zu sehen) bzw. der etwas neuere Backsteinturm vor dem Schloss. Bei einem Angriff brannte der Baum vor dem Schloss komplett ab und steht nun als verkohltes Mahnmal an der Donau, ein beinahe Caspar David Friedrich’sches Bild von höchster Eindringlichkeit und Symbolik.

Oder der ehemalige internationale Flughafen Nicosia auf Zypern. Nach dem Überfall der Türken auf Zypern 1974 richteten die UN- Truppen eine (- bis heute noch -) von Blauhelmen kontrollierte Pufferzone ein. Diese Pufferzone darf nicht betreten werden und liegt zwischen dem türkisch besetzten und dem zypriotischen Teils Zyperns. Der (- 1974 noch recht neue -) internationale Flughafen Nicosia fiel in diese Pufferzone und darf seitdem nicht mehr genutzt werden. Auf der Startbahn stehen Fässer, um das Starten und Landen zu verhindern, das Schaltergebäude steht leer und verfällt.

Oder auf Lampedusa der – wieder beinahe Caspar David Friedrich’sche – Blick aufs Meer. Bilder von äußerster Spannung, die unheimliche Weite, die eindringliche Stille, die verstörende Verlassenheit, die irritierenden Gegensätze der Landschaft. – Momenti mori?!

Immer wieder – seien es der Schiffsfriedhof auf Lampedusa mit den verfallenen Schiffen in schönen, kräftigen Farben, allesamt aufgegriffenen und zerstörte Flüchtlinsboote, oder die fast biblisch schöne Landschaft in Melilla, mit dem Zaun, der die spanische Enklave von Afrika trennt, – immer wieder versucht Gerhard Hagen, sich die Ästhetik und die Gestaltung seiner Fotos zunutze zu machen, um damit Aussagen zu treffen. Er macht Situationen sichtbar, er spielt mit Perspektiven, Vordergründen und Hintergründen, Tiefen, Ebenen und Stimmungen, er pointiert, mit dem Tageslicht, dem Sonnenstand, einer Wolkenformation, einem Farbenspiel, einer Kontur, er überzeugt durch Natürlichkeit, Menschlichkeit, Sehnsucht und Poesie. Er erzählt Geschichten und spricht dabei unsere Erinnerungen, unsere Erfahrungen, unsere Empfindungen, unser Wissen, auf sensible und sympathische Art und Weise an. Er löst in uns Gefühle aus, wir beginnen zu denken, in Bildern und Worten.

Seine Arbeiten gehen dabei weit in die künstlerische Dokumentarfotografie, weniger um Wiedererkenntnis-Werte als um eigene fotografisch formulierte Sichtweisen auf die Welt.“

Jan Esche